Destiny* (Schicksal) ist der Name, den Justina für ihren Sohn wählte, da er für sie eine Wende in ihrem Leben darstellte. Die 21-jährige Modedesignerin flüchtete eines Nachts aus Nigeria, weil sie von Mitgliedern einer religiösen Sekte bedroht wurde. Ihr erstes Kind musste sie bei ihrer Mutter zurücklassen. Sie stellte in Österreich einen Asylantrag, der jedoch abgelehnt wurde. Justina hatte Angst abgeschoben zu werden. Doch dann lernte sie Sesana kennen, einen mittlerweile eingebürgerten Flüchtling aus dem Sudan. Es entwickelte sich eine Beziehung, sie wurde schwanger, die beiden heirateten. Justina erhielt eine Niederlassungsbewilligung, fand eine Beschäftigung und erhielt dadurch Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, mittlerweile wurde auch um eine Gemeindewohnung angesucht. Ihr Mann wird ihr erstes Kind adoptieren, damit dieses auch bei der Familie leben kann. Justina bezieht ihre Lebenswende zum Positiven auf die Geburt ihres Kindes. Ihr „Glück“ hängt aber vor allem damit zusammen, dass ihr Mann ein österreichischer Staatsbürger ist.
Die Erziehung innerhalb von MigrantInnenfamilien kann nicht unabhängig von rechtlichen und sozialen Benachteiligungen, denen AusländerInnen ausgesetzt sind, betrachtet werden, neben persönlichen und kulturspezifischen Faktoren. „When your parents give birth to you, you also give birth to them,“ erzählt Justina. Dieses Sprichwort aus Nigeria bedeutet, dass ebenso wie Eltern für ihre Kinder sorgen müssen, auch die Kinder verpflichtet sind, für ihre Eltern zu sorgen, wenn diese alt geworden sind.
An der Situation von Kindern in Österreich schätzt sie, dass diese sehr gut versorgt sind, mit kostenloser Schulausbildung und Krankenversicherung. „Wenn du in Nigeria kein Geld hast, dann kannst du dein Kind auch nicht im Spital behandeln lassen!“. Justina meint aber, dass es für sie durch das Zusammenleben in der Großfamilie in Lagos leichter als in Wien war, ein Kleinkind zu erziehen. „Meine Mutter und meine Schwestern haben mir bei meinem ersten Sohn sehr geholfen, hier bin ich mit meinen Mann alleine.“
Auch die 32-jährige Sinem, die vor elf Jahren als Angehörige eines Arbeitsmigranten von der Türkei ausgewandert ist, findet, dass es in Österreich schwieriger ist Kinder großzuziehen als in ihrem Herkunftsland. „Meine Mutter hatte sechs Kinder und ich glaube, es war kein Problem für sie, ich habe hier jetzt drei, und es ist schwer für mich.“ Sie erzählt, dass sie sich als Kind in Ankara sehr viel im Freien aufgehalten hat. So waren die Mütter entlastet. Sie machten sich keine Sorgen, denn die größeren Kinder beaufsichtigten die Kleineren und in ihrem Wohnviertel kannten fast alle einander. „Zu Beginn unseres Aufenthalts in Wien ging mein Sohn auch immer in den Hof, um zu spielen. Doch dann gab es Beschwerden von einigen Hausbewohnern. Das war ein Schock für ihn.“ Sinems Kollegin, die auch in der Türkei aufgewachsen ist, meint, dass in Österreich im Gegensatz zur Türkei Wert darauf gelegt wird, dass die Umgebung von Babys immer ruhig ist oder dass Kinder bei abends stattfindenden Festen nicht dabei sein dürfen. „Es ist jetzt nicht das eine oder das andere besser, es ist halt anders. Ich weiß aber nicht, ob ich hier in Wien ein Kind großziehen könnte.“
Sinem berichtet ebenso von den Nachteilen des Lebens in der Großfamilie in der Türkei. Sie versteht sich nicht gut mit ihrer Schwiegermutter, die sie ständig kritisiert und sich auch in die Erziehung ihrer Kinder einmischt. Würde sie in der Türkei leben, dann könnte sie sich dem Kontakt und dem Einfluss der Mutter ihres Mannes nicht entziehen.
Ob sich ihr Erziehungsstil von jenem ihrer Eltern unterscheide, frage ich Sinem, die in Wien als Kinderbetreuerin tätig ist. „Ich versuche nicht so streng zu sein wie mein Vater, aber es gelingt mir nicht immer“, meint Sinem mit einem Lächeln. „Mein Vater hat seine Söhne gegenüber den Töchtern bevorzugt, auch das finde ich nicht gut, Mädchen und Buben müssen gleich behandelt werden.“ Veränderungen bezüglich der patriarchalischen Strukturen finden in der Türkei natürlich ebenso statt wie in Österreich, meint Sinem.
Als Sinem jung war, hatte ihr Vater noch darauf bestanden, dass sie ein Kopftuch trägt. Ihr Mann hingegen ist der Ansicht, dass sie keines tragen sollte. Sinem trägt im öffentlichen Raum in Wien ein Kopftuch, weil es für sie ebenso ein wichtiges religiöses Symbol ist wie ein Schmuckstück. Obwohl sie deswegen in Österreich oft angepöbelt wird und einmal sogar jemand versucht hatte, es ihr vom Kopf zu reißen. „Wenn meine Tochter zwöf oder dreizehn Jahre alt ist, wird sie selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen möchte oder nicht.“ Alle drei Kinder besuchen einmal pro Woche die Koranschule. „Den Ältesten interessiert die Koranschule jetzt nicht mehr, Fußball und seine Freunde sind ihm wichtiger.“
Sinem spricht mit ihren Kindern nur Türkisch. „Oft sagen sie aber dabei Wörter in Deutsch, weil sie diese Sprache besser beherrschen.“
Bei MigrantInnenkindern wird von „bikultureller Sozialisation“ gesprochen, das heißt, an sie werden Werte und Normen aus zwei Kulturen herangetragen, jene ihres Herkunftslandes und die des Aufnahmelandes. In Zeiten der Globalisierung ist es jedoch schwierig, spezifische Kulturmuster bestimmten Gesellschaften zuzuordnen. Wir erwerben heute unsere Identität nicht nur durch eine einzige oder eine zweite Kultur, sondern es gibt eine „Hybridisierung von Lebensstilen, Denk- und Handlungsweisen“ und somit „plurale Identitäten“, meint der Pädagoge Dietmar Larcher. Sinems Kinder absolvieren eine österreichische Ausbildung, besuchen die Koranschule, surfen im Internet, haben Freunde aus verschiedensten Ländern Europas, interessieren sich für ostasiatische Kampfsportarten, schauen MTV, hören gerne englische und türkische Popmusik, essen am liebsten Spaghetti, Pommes Frites und türkische Joghurtsuppe.
Wie die Sozialisation der Kinder von MigrantInnen verläuft, ist auch abhängig von einer Reihe anderer Faktoren, etwa den Gründen für die Migration, den Möglichkeiten der Rückkehr, der Persönlichkeit, dem Alter zum Zeitpunkt der Einwanderung, der wirtschaftlichen Situation der Familie usw. und vor allem den Bedingungen und Möglichkeiten im Aufnahmeland.
Die Tochter einer kanadischen Diplomatenfamilie, die in einem Haus mit Garten am Stadtrand wohnt, die eine amerikanische Privatschule besucht, die nur Englisch beherrscht und wenig vom Rassismus betroffen ist, macht sicher ganz andere Sozialisationserfahrungen als der Sohn von ArbeitsmigrantInnen aus der Bundesrepublik Jugoslawien, der mit seiner Familie zu fünft in einer 40m2-Substandard-Wohnung lebt, dessen Mutter als Bedienerin arbeitet, um den Lebensunterhalt aufzubessern, der perfekt Deutsch spricht und als „Tschusch“ stigmatisiert wird.
In jedem Fall heißt Migration Trennung von Gewohntem und Vertrautem sowie Einlassen auf etwas Neues und Unvorhersehbares. Meistens ist mit Einwanderung in ein anderes Land auch Hoffnung auf Verbesserung der Lebensqualität verbunden. Einerseits sind Kinder von MigrantInnen besonderen Belastungen ausgesetzt, andererseits sind Lernerfahrungen in verschiedenen Lebenswelten auch förderlich für ihre Persönlichkeitsentwicklung.
Die psychosozialen Prozesse, die bei der Sozialisation ablaufen, sind jenen bei der Migration sehr ähnlich, bei ersteren spricht man von Enkulturation und bei letzteren von Akkulturation. Bei beiden geht es um das „Hineinwachsen“ in kulturelle Systeme, das Erlernen von Sprache und Verhaltensnormen, die Anpassung von persönlichen Bedürfnissen an die Umgebung. Gamze Ongan, Obfrau von „Peregrina“, hat es so ausgedrückt: „Die Migration ist eine Krise und eine Chance zugleich. Sie ist ein Neubeginn und mehr als das, eine zweite Sozialisation.“
*)Die Namen wurden zwecks Anonymisierung geändert.